Digitaler Wandel – Fluch oder Segen?

21. Juni 2018

Schnell mal online in der Bahn schauen, was denn die dringend benötigten Bergschuhe oder der Rucksack so -kosten und wo sie am günstigsten zu kaufen sind – in Zeiten von Smartphones, Apps und Onlineshops ändert sich das Einkaufsverhalten der Endverbraucher rasant. Viele -Einzelhändler kommen kaum noch nach, fürchten um ihre Existenz. Auch manche Hersteller sind ratlos. Doch ist die -Digitalisierung tatsächlich „Teufelswerk“ – oder bietet sie nicht neue Chancen, den Kunden wieder zu gewinnen? outdoor.markt gibt einen Überblick über Ansätze und Konzepte bei Handel und Marken. 

Technischer Fortschritt ist ja an und für sich eine gute Sache. Arbeitsabläufe werden vereinfacht, Kraft und Zeit können gespart werden, Produkte effizienter und einfacher hergestellt und verschickt werden. Auch den Alltag gestaltet der technische Fortschritt angenehmer, vor allem bequemer. Informationen sind immer und überall verfügbar. Apps und andere Features machen es möglich, von unterwegs im Kühlschrank zu schauen, was noch eingekauft werden muss, die Heizung oder das Licht kann schon vor der Ankunft zu Hause eingeschaltet werden. Der digitalen Revolution sei Dank.

Schöne neue digitale Welt also? Nicht überall, denn die Digitalisierung stellt Händler und auch Hersteller vor viele neue Herausforderungen. Denn der Kunde, der bisher in den Laden kam, sich beraten ließ und dann im besten Fall auch direkt das gewünschte Produkt vorfand und kaufte, sucht sich nun seine Beratung und die erforderlichen Informationen oft schon im Internet. Und kauft dann auch dort. Sei es über das Smartphone oder am Rechner, Online-Handel ist schnell, bequem und einfach. Zum Leidwesen vieler stationärer Händler. Doch auch die Hersteller müssen umdenken. Die Kunden wollen in den direkten Kontakt treten, ihre Wünsche, Fragen und auch Beschwerden direkt an die Hersteller loswerden. Und sie erwarten Feedback.

Was bedeutet das für den Handel?

Bestand die Erfolgsformel des stationären Handels vor rund zehn Jahren noch aus der Kombination der Größe des Filialnetzes sowie der Auswahl und günstigen Einkaufskonditionen, muss nun ein Umdenken her. Einkaufen war zu der Zeit eine Freizeitbeschäftigung oder einfach eine Alltagspflicht. Die Digitalisierung hat das grundlegend verändert. Menschen suchen, kaufen und bezahlen Produkte vermehrt online und teilen ihre Produkterfahrungen online. Vor zwei Jahren noch galt Mobile Shopping als Trend, mittlerweile hat sich das Smartphone in der Customer Journey fest etabliert. Da sich digitale Technologien rasant weiterentwickeln und das Kaufverhalten weiter nachhaltig verändern werden, ist es für Händler überlebenswichtig, frühzeitig neue Trends im Konsumentenverhalten zu erkennen, zu verstehen und sich strategisch entsprechend aufzustellen. Mit der anhaltenden Verbreitung mobiler Endgeräte wie Smartphones, Tablets und Wearables ist zu erwarten, dass der Anteil online und mobil getätigter Einkäufe noch weiter wachsen und sich auch die Erwartungshaltung der Kunden verändern wird: Sie sind zunehmend daran gewöhnt, völlig flexibel einkaufen zu können, was sie möchten und wann sie es möchten – unabhängig davon, wo sie sich gerade befinden. Für den stationären Handel ist es also wichtig, den Kunden genau zu kennen und präzise auf seine Bedürfnisse oder möglichen Wünsche einzugehen, um im digitalen Zeitalter nach-haltige Shopping-Erlebnisse anbieten zu können.

Schon jetzt sind Technologien für neue Erfahrungen und Einkaufserlebnisse im Einzelhandel keine Science-Fiction mehr. Händler tun gut daran, sich 2018 auf die moderne Technik und die entsprechenden Kundenbedürfnisse einzustellen. Zu diesem Schluss kommen die Marktforscher von IDC in ihren Retail Predictions 2018. Besonders die Erwartungen und Ansprüche potenzieller Kunden sollten als Richtschnur für die Priorisierung fortschrittlicher Technologien im Einzelhandel dienen. Dazu zählen zum Beispiel biometrische Daten, standortbezogene Dienste, Internet, Virtual Reality und Künstliche Intelligenz. Aber auch hyperpersonalisierte Empfehlungen und Angebote sind wichtig. IDC erwartet, dass Händler auf Plattformen setzen, die kontinuierlich mikroservicefähige Funktionen und Erfahrungen bereitstellen können.

Greifbaren Mehrnutzen bieten

Das IDC empfiehlt Händlern, die Customer Experience im Hinblick auf Beweglichkeit und Kontextrelevanz neu zu strukturieren, so dass eine Kombination des Kundenservices möglich wird, die Informationen wie Kundendaten, Produktdaten und Bestandsdaten, Prozesse und verschiedene Verkaufsaktionen nutzt. Der Kunde erwartet einen greifbaren Mehrnutzen im Geschäft. Das bedeutet für den stationären Händler: Er muss die Gleichung „Produkt + Mensch = Preis“ überzeugend mit Inhalt füllen. Denn die Umsatzzuwächse der zurückliegenden Jahre verdankt der Handel im Übrigen fast ausnahmslos dem Online-Kanal, dessen Wachstumsrate um sieben Prozent höher war als die des Handels insgesamt. Dies ergibt eine Studie des Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmens PwC, das 2017 gemeinsam mit SAP mehr als 300 Einzelhändler und 1.200 Verbraucher in sechs europäischen Ländern befragt hat. Laut dieser Studie sieht PwC die Zukunft des Einzelhandels vor allem in einem Modell, das Beratung vor Ort mit Online-Handel verbindet. Zudem empfiehlt die Studie, neben dem Omnichannel-Angebot auch digitale Möglichkeiten für den Laden zu nutzen. Um sich vom reinen Online-Handel abzusetzen, ist für den statio-nären Handel die maximale Kunden-orientierung besonders wichtig. Auch die PwC-Studie empfiehlt, ähnlich der des IDC, dass Händler sich von der Konkurrenz absetzen sollten und dies durch das Nutzen besonderer digitaler Technologien wie beispielsweise Virtual Reality im Laden. Das Kunden- und Einkaufserlebnis steht für Menschen, die im stationären Handel einkaufen, im Vordergrund. Als Königsweg empfiehlt PwC sogenannte Showrooms, also Standorte, in denen viel bestaunt und beraten, aber nicht direkt verkauft wird.

Den Berg in den Laden holen

Interaktive Shoppingwelten im Store bieten neue Einkaufserlebnisse und bieten somit dem Händler eine Ergänzung zur schnellen Kauferfahrung des E-Commerce und Omnichannels. Für Einzelhändler gibt es keinen Grund, den Online-Handel vom stationären Geschäft getrennt zu denken. Kunden können schon heute nahtlos zwischen ihren digitalen und analogen Lebenswelten wechseln. Indem sie die Einkaufserfahrung vor Ort im Geschäft in den digitalen Raum erweitern, können stationäre Händler eine Einkaufserfahrung schaffen, die zu dieser Realität passt. Hierbei kann auch die Virtual-Reality-Technologie (VR) eine hilfreiche Rolle spielen: Mit VR können Einzelhändler ihre Kunden nicht nur emotional ansprechen, sondern auch Produkte, Services und sogar Prototypen realitätsnah erlebbar machen – ohne dass diese tatsächlich im Showroom verfügbar sein müssen. Das Resultat können eindrucksvolle, immersive Marken-erlebnisse sein, die im Gedächtnis bleiben. Mit VR lassen sich die Grenzen einer Filiale ins Virtuelle erweitern, neue Markenerfahrungen können geschaffen werden. Die Technologie ermöglicht es, den Einkauf vor Ort im Geschäft mit realitätsnahen, interaktiven Erfahrungen aufzuladen. Mit entsprechenden Temperatursimulationen können beispielsweise Outdoor-Begeisterte ihre neue Expeditionsausrüstung unter gefühlt realen Bedingungen testen – das Bergsteiger-Erlebnis wird in die Filiale gebracht

Services mit besonderem Potenzial

Eine weitere Studie, die der Immobiliendienstleister Wisag gemeinsam mit Statista durchgeführt hat, ergab, dass großes Potenzial im Einzelhandel vor allem noch bei den Services liegt, die Kunden als sinnvoll erachten, von Händlern derzeit jedoch noch nicht im gewünschten Umfang geboten werden. Dies sind unter anderem die Abholung online gekaufter Ware im stationären Handel auch außerhalb der Öffnungszeiten, digitale Hinweise auf Verfügbarkeit in Stores zu Waren, die bei der Online-Bestellung nicht mehr verfügbar sind, sowie die Möglichkeit, online einen Beratungstermin im Store vereinbaren oder bargeldlos per App bezahlen zu können.

Dagegen ist der Anteil der Händler, die die Services Mobiles Online-Shoppen in den Filialen, Kundenloyalitätsprogramm und Beacon-Technologie bieten, größer als der prozentuale Anteil der Kunden, die diese Services als sinnvoll erachten. Für am unwichtigsten erachten die Kunden die Beacon-Technologie, also die Kundenansprache im Store durch digitale Push-Nachrichten und mobiles Online-Shopping in den Filialen durch Scannen von QR-Codes.“

So können Händler aufrüsten

In einer Studie hat Software-Hersteller Oracle Händler und Influencer befragt, um Strategien für den Einzelhandel zu erarbeiten. Im Vordergrund standen auch hier die digitalen Kunden. Es lohnt sich für Händler, das Ladengeschäft für diese Kunden neu zu gestalten. Technologien bieten die Möglichkeit, Produkte neu und attraktiv zu präsentieren. Doch nicht nur die Technik spielt eine Rolle, auch der persönliche Service ist nach wie vor gefragt und bietet einen Vorteil gegenüber den Online-Riesen wie Amazon. Die Interaktion mit echten Menschen, deren Expertise und Beratung ist etwas, das reine Online-Händler nicht bieten können. Einzelhändler können die Aufmerksamkeit und die Herzen von Kunden gewinnen, indem sie personalisierte, spezialisierte Leistungen anbieten.

Der Händler Engelhorn hat sein Geschäft beispielsweise mit innovativen digitalen Technologien wie einem interaktiven Screen ausgestattet und seine Services um Angebote wie Individualisierung, Click & Collect und Same Day Delivery erweitert. Auf dem interaktiven Screen mit Gestensteuerung wird der Besucher von einem Avatar begrüßt, bei Interesse kann er sich über unterschiedliche Services informieren.

Strukturen werden aufgeweicht

Durch die Digitalisierung ergeben sich auch für die Hersteller neue Herausforderungen. Hatte bisher meist nur der Händler » den direkten Kontakt mit den Kunden – die Hersteller kamen oft nur bei Reparaturanfragen ins Spiel –, hat sich dies mittlerweile verändert. Die Digitalisierung weicht die alten Strukturen auf. Inzwischen kaufen Kunden direkt beim Hersteller, markenaffine Kunden fordern dies sogar ein. Auch Kunden, die gezielt nach einem Produkt im Internet suchen, kaufen gerne direkt auf der Hersteller-Webpage, ohne Umweg über den Handel. Aktuell noch macht der Umsatz der Hersteller-Onlineshops einen geringen Teil am Online-Gesamtumsatz aus, aber die -Tendenz nach oben ist klar.

Make it your own

Es bieten sich neue Vertriebswege und Möglichkeiten der Verzahnung. Zum einen ist da der Direktvertrieb über den eigenen Online-Shop. Hier können Hersteller in den direkten Kontakt mit dem Endkunden treten, erhalten direktes Feedback und so die Informationen und Möglichkeiten, herauszufinden, welche Bedürfnisse und Ansprüche sie an die Produkte haben. Dies sind nicht nur Vorteile in Bezug auf Kundenkontakte und Kundendaten, das Feedback kann direkt zur Verbesserung, Anpassung oder Änderung eines Produktes genutzt werden. Zudem bietet ein eigener Online-Shop den Herstellern die Möglichkeit, die Digitalisierung auch im Produktionsprozesses eines Produktes zu nutzen und daraus einen besonderen Service für den Endverbraucher zu gestalten. Zum Beispiel die Individualisierung eines Produktes oder Angebotes. Diese Individualisierung wird häufig auch als -Personalisierung bezeichnet, eigentlich meint die Personalisierung im E-Commerce aber die persönliche und personalisierte Ansprache der Kunden beispielsweise mit Vornamen und Vorschlägen zu dessen Vorlieben im Online-Shop.

Im Bereich der Individualisierung, also dem Angebot breiter Marktprodukte und Services, die so angepasst und individualisiert werden können, dass sie einer bestimmten Kundenanforderung entsprechen, bietet die Sportmarke- Nike die individuelle Zusammenstellung ihrer Sport- und Freizeitschuhe an. Kunden können im Online-Shop die Farben, Muster und das Design frei wählen und so ein Produkt nach persönlichem Geschmack kreieren. Aber auch in der Zusammenarbeit mit Händlern können die Hersteller neue Chancen und Wege nutzen, die die Digitalisierung bietet. So hat Vaude zwar einen eigenen Online-Shop, allerdings dient der ausschließlich der Vermittlung von Partnerhändlern von Vaude. -Kunden können Produkte dort bestellen, der Auftrag wird jedoch direkt an einen Fachhändler und Versandpartner weitergeleitet.

Bessere Einkaufserlebnisse

Andere Hersteller nutzen digitale Tools zur Unterstützung des Handels und zur Verbesserung des Einkaufserlebnisses. Deuter und Globetrotter beispielsweise kooperieren seit Sommer 2017 und nutzen gemeinsam die Plattform beziehungsweise Tools der loadbee GmbH. In einem ersten Shop-in-Shop-Konzept im Globetrotter Dresden präsentiert Deuter ein Verkaufsdisplay, mit dem Endkunden alle Produktinformationen zu allen Deuter-Artikeln erhalten. Mittels eines Verkaufsdisplays oder Staff-Tablets werden alle Produktinformationen übermittelt. Dafür scannen die Deuter-Kunden lediglich den Strichcode des Artikels. Das Display dient den Verkäufern nicht nur als Unterstützung und Informationsquelle, sondern auch als Übersetzer: Der Tourist aus China erhält genauso seine Produktinformationen wie andere Kunden. Zu guter Letzt weiß das Verkaufsdisplay nicht nur, welche Deuter-Artikel auf der Verkaufsfläche vorhanden sind, sondern auch, welche Produktvarianten im Lagerraum sind. Dementsprechend müssten pro Rucksacktyp nicht mehr alle Farben im Shop ausgestellt werden. Möchte ein Endkunde statt des blauen den roten Rucksack sehen, holt der Verkaufsberater das Modell schnell aus dem Lager. So wird die begrenzte Verkaufsfläche optimal genutzt.

Nutzen für Handel und Verbraucher

Auch der Schuhhersteller Viking kooperiert mit loadbee, um Endkunden einen besseren Service zu bieten und Händlern das Einpflegen von Produktinformationen zu erleichtern, denn sie müssen  künftig nur noch Basisdaten wie Preis, Größen oder Artikelnummer einpflegen. Ausführliche Produktinfos, Videos oder Bilder liefert Viking direkt, sie müssen nicht mehr eingegeben werden. Viking ging bereits 2016 neue Wege im Vertrieb und ermöglichte es seinen Geschäftspartnern, über ein B2B-System 24 Stunden und sieben Tage die Woche eine schnelle Einsicht in Verfügbarkeiten von Produkten oder Farben zu bekommen und Bestellungen jederzeit tätigen zu können.

An der Digitalisierung kommt keiner mehr vorbei. Kunden können- fast nur noch online gewonnen, gehalten und überzeugt werden, und wer den Kunden dort abholt und entsprechend anspricht, dem eröffnen sich neue Wege und Möglichkeiten der Kundenbindung und des Vertriebes. Zudem bieten sich auch zusätzliche und einfache Kooperationsmöglichkeiten zwischen Handel und Herstellern, sodass beide Seiten davon profitieren und nicht miteinander konkurrieren. Denn, so ergaben Umfragen des Online-Portals ispo.com, der Einzelhandel ist für Hersteller immer noch der wichtigste Partner, wenn es darum geht, das Produkt an den Mann und die Frau zu bringen.   

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